Vernetzungsplattform zum Thema Flucht

OFFENER BRIEF
an Bundeskanzler Kurz und Vizekanzler Kogler


Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Vizekanzler,


die Corona-Krise erfordert die Aufmerksamkeit der Regierung in einem noch nie dagewesenen Ausmaß, und es ist anzuerkennen, dass wir hier in Österreich größtmögliche Hilfe in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht erhalten.

Angesichts dieser großen Unterstützung, die in so kurzer Zeit möglich war, empört es uns umso mehr, dass Sie eine andere humanitäre Katastrophe ignorieren, die vor unseren Augen auf dem Boden der EU stattfindet: Die unmenschlichen Zustände in den heillos überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln.


Warum fehlt hier der Wille zu Solidarität und Hilfe für kranke Kinder, alleinstehende Jugendliche, von Gewalt bedrohte Frauen, durch das Corona-Virus besonders gefährdete ältere Menschen, ...?


Im Vergleich zu den Herausforderungen durch die Corona-Pandemie wäre eine Hilfestellung für die Menschen in den griechischen Lagern viel einfacher, denn Österreich hat genug Platz für die Unterbringung von Geflüchteten:

 

  • Auf der Website des Bundesministeriums für Inneres sind 25 Betreuungsstellen aufgelistet. Medienberichten zufolge haben diese Bundesbetreuungsstellen eine Gesamtkapazität von ca. 6.500 Plätzen, davon sind aber nur ca. 1.300 Plätze belegt.

  • Auch für die inaktiven Bundesbetreuungsstellen müssen Miete und Betriebskosten gezahlt werden, für alle Standorte zusammengenommen waren es 2019 ca. 7 Mio. Euro.

  • Gegenüber Medien hat das Innenministerium die inaktiven Unterkünfte mehrfach als „Vorsorgekapazität“ bezeichnet, die „im Bedarfsfall innerhalb kürzester Zeit“ wieder in Betrieb genommen werden können.

  • Es ist also offensichtlich, dass es ausreichend leerstehende Unterkünfte gibt, für die die Allgemeinheit sowieso Miete und Betriebskosten zu zahlen hat.

  • Dazu kommen die in diesen Zahlen noch gar nicht berücksichtigten Unterkünfte, die von den Ländern betrieben werden, z.B. hier in Tirol von den „Tiroler Sozialen Diensten“.


Darüber hinaus hat Österreich eine beachtliche Struktur von Organisationen im Asylbereich sowie eine sehr gut funktionierende Zivilgesellschaft, die sich nach wie vor für Menschen auf der Flucht und deren Integration engagieren.


Der Transport nach Österreich dürfte kein allzu großes Hindernis darstellen, denn kürzlich war es ja auch problemlos möglich, 231 Pflegerinnen aus Bulgarien und Rumänien einzufliegen.


Aktuellen Medienberichten zufolge werden Deutschland und Luxemburg in den kommenden Tagen damit starten, Geflüchtete von den griechischen Inseln aufzunehmen, insbesondere Kinder. Weitere acht EU-Länder haben im Rahmen der „Koalition der Willigen“ angekündigt, ebenfalls Menschen aus Griechenland aufzunehmen. Die österreichische Bundesregierung hat sich bis dato diesen Plänen leider nicht angeschlossen – eine Haltung, die wir auf Basis der oben genannten Argumente weder verstehen noch akzeptieren können.


Wir fordern daher:

 

  • Österreich muss dafür Sorge tragen, dass die menschenrechtswidrigen Zustände in den Lagern auf den ostägäischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos beendet werden.

  • Österreich darf nicht zulassen, dass Griechenland – unter Missachtung der Ideale der europäischen Einheit – bei der Bewältigung der aktuellen Flüchtlingskrise alleine gelassen wird.

  • Österreich soll in Abstimmung mit Deutschland und den anderen Ländern der „Koalition der Willigen“ besonders gefährdete Menschen aus den griechischen Lagern aufnehmen – vor allem unbegleitete Minderjährige, Kinder und Frauen sowie Menschen aus Covid-19-Risikogruppen.

Innsbruck, am 14. April 2020



Die sogenannte »Erledigung«, also die offizielle Antwort auf den Offenen Brief, wurde vom Bundeskanzler an einen Beamten des Innenministeriums delegiert.


Weitere Reaktionen von politischer Seite (in Form von E-Mails):


        19.04.2020Mag.a Beate Meinl-Reisinger, Klubobfrau (NEOS)


        21.04.2020Dr.in Ewa Ernst-Dziedzic, stv. Klubobfrau (Grüne)


        05.05.2020Sigi Maurer, BA, Klubobfrau (Grüne)



Der Standard, 16.04.2020, Seite 8